Nationalsozialismus: Der totale Staat

Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Innerhalb von eineinhalb Jahren wurden der Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie beseitigt sowie die Gewaltenteilung aufgehoben. 1934 hatte sich das politische System in Deutschland zur totalitären NS-Diktatur gewandelt. In der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik dominierte die Wirtschaftslenkung: Mit Arbeitsbeschaffungsprogrammen wurde Vollbeschäftigung erreicht. Als dann die Preise stiegen, wurden sie durch staatliche Preisfestsetzung „eingefroren“ und der marktwirtschaftliche Preismechanismus außer Kraft gesetzt. Ziel war die Umlenkung von wirtschaftlichen Ressourcen in rüstungs- und kriegswichtige Bereiche. Mit Rationierungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen wurden der Konsum eingeschränkt und indirektes Sparen zur „geräuschlosen“ Kriegsfinanzierung erzwungen. Mit Autarkiepolitik wurde die Abschottung vom Welthandel betrieben.


Die Durchsetzung von NS-Führerkult und NS-Rassen-Ideologie wirkte sich in allen Lebensbereichen aus. Antijüdische Gesetze schränkten die Bürgerrechte deutscher Juden stark ein und verfügten die Entlassung aller „nichtarischen“ Beamten. Beispielhaft war das Schicksal des Freiburger Philosophen Edmund Husserl, eines Freundes Walter Euckens: Im Januar 1933 wurde er noch mit einer Universitätsfeier geehrt, drei Monate später wurde er zwangsweise beurlaubt und gedemütigt, seine Altersbezüge gestrichen.

Der im April 1933 neu gewählte Rektor, der Philosoph Martin Heidegger, führte an der Universität das „Führerprinzip“ ein. Als Vertreter der Opposition im Senat sprach Eucken den Rektor kritisch auf seine Universitätspolitik und gewaltsame Übergriffe auf jüdische Studenteneinrichtungen an.

Die Judenverfolgung in der Reichspogromnacht 1938 war der Anlass, dass sich um die Ökonomen Constantin v. Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe und den Historiker Gerhard Ritter die oppositionellen Freiburger Kreise bildeten. Sie standen der Bekennenden Kirche nahe, einer Oppositionsbewegung evangelischer Christen gegen die Gleichschaltung von Kirche und NS-Staat. Im sogenannten Freiburger Konzil befassten sie sich mit Fragen des christlichen Widerstandsrechts und den Aufgaben des Christen und der Kirche angesichts des totalen Führungsanspruchs des Regimes.

Im Bonhoeffer-Kreis erarbeiteten sie ab 1942 in konspirativen Treffen Grundzüge für eine freiheitliche Nachkriegsordnung und formulierten die Anlage 4 „Wirtschaft und Sozialordnung“ zur 1943 fertiggestellten Denkschrift. Zum Bonhoeffer Kreis gehörte auch Carl Goerdeler, der später als einer der führenden Köpfe des zivilen Widerstands hingerichtet wurde. Drei der Freiburger Denkschrift-Autoren – v. Dietze, Lampe und Ritter – wurden 1944 verhaftet, kamen jedoch bei Einmarsch der Roten Armee frei. Eucken wurde von der Gestapo verhört. Ein Exemplar der Denkschrift konnte vor der Gestapo versteckt werden und den Krieg überdauern.

Euckens Vorstellungen von einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gelangten durch seine Mitarbeit im dritten Freiburger Kreis, der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath, und seinen Kontakt zu Jens Jessen und Peter Graf Yorck von Wartenburg in den Kreisauer Widerstandskreis und die militärische Widerstandsgruppe um General Ludwig Beck. Jessen, Yorck von Wartenburg und Beck wurden nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet.


DER FREIBURGER KREIS
Akademischer Widerstand wird Thinktank Deutschlands

Dokumentarfilm von Jakob Ortmann


Walter Eucken an der Universität Freiburg

 

Eucken – Sprecher der Professoren-Opposition im Senat während des Rektoratsjahres des Philosophen Martin Heidegger

Bereits im Amtsjahr 1928/29 war Eucken Mitglied des Senats der Universität Freiburg. Am 21. April 1933 wird Eucken erneut in den Senat gewählt, nachdem das bisherige Senatsmitglied der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, der Jurist Fritz Pringsheim (1882–1967), aufgrund des badischen Judenerlasses vom Dienst suspendiert worden war. (Pringsheim wurde dann 1935 entlassen. Er konnte 1939 nach England fliehen, wo er in Oxford lehrte. 1946 kehrte er mit Unterstützung Euckens auf seinen Lehrstuhl in Freiburg zurück).

Am 20. April 1933 war der neugewählte Rektor, der Mediziner Wilhelm von Möllendorff, nach nur fünf Tagen im Amt zurückgetreten. Denn am Tag nach der ersten von ihm geleiteten Senatssitzung wurde er im nationalsozialistischen Kampfblatt „Der Alemanne“ heftig angegriffen und aufgefordert, „der Neuordnung der Hochschule nicht im Wege zu stehen.“

In der am 22. April 1933 einberufenen Plenarversammlung der Professoren – erstmals gehörten alle jüdischen Professoren nicht mehr dazu – wurde der Philosoph Martin Heidegger mit großer Mehrheit der Anwesenden zum neuen Rektor gewählt. In seiner Rektoratsrede bei der feierlichen Amtsübernahme am 27. Mai 1933 kündigte Heidegger an, die Hochschule zu einer NS-Musteranstalt mit straffem Führerprinzip machen zu wollen und die „vielbesungene ‚akademische Freiheit‘“ aus der Universität zu „verstoßen.“¹ Das studentische Dasein sollte vielmehr geprägt sein durch Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst. Dabei wurden Arbeits- und Wehrdienst im obligatorisch abzuleistenden Wehrsport zusammengefasst. Zwischen Professoren und Studenten sollte ein Verhältnis herrschen wie zwischen Führung und Gefolgschaft.

Heidegger beruft während seiner einjährigen Amtszeit den Senat nur viermal ein, wogegen besonders von Möllendorff und Eucken protestieren. Eucken wird in dieser Zeit zum Sprecher der „latenten Opposition im Senat“. In der ersten Senatssitzung stellt Eucken Heidegger wegen der Plünderungen und Misshandlungen zur Rede, die sich am 28. Juni 1933 gegen die jüdische Studentenverbindung Neo-Friburgia richteten. In der zweiten Senatssitzung äußert sich Eucken kritisch zum Umfang des Wehrsports, dessen ungeordnete Durchführung den Lehrbetrieb störe.

Während Euckens Senatszeit war zudem die Nachfolge des 1933 emeritierten Ökonomen Karl Diehl zu regeln. Heidegger verhinderte, dass Adolf Lampe auf den Lehrstuhl berufen wurde. Erst viel später wird 1937 auf Vermittlung Euckens Constantin von Dietze als Nachfolger berufen. Eucken und von Dietze kannten sich aus gemeinsamer Privatdozentenzeit in Berlin.

Die Nationalsozialisten gingen mit Härte gegen missliebige Wissenschaftler vor: Auf der Grundlage des am 7. April 1933 von ihnen erlassenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurden Beamte aus rassischen (§ 3) bzw. politischen (§ 4) Gründen entlassen.

Bis zum Wintersemester 1934/35 waren damit an deutschen Universitäten ca. 14% der Lehrenden entlassen, von den Wirtschaftswissenschaftlern sogar nahezu ein Viertel.²

Im Februar 1934 klagt Walter Eucken einem ehemaligen Doktoranden: „Gerade hier in Baden ist die Universitätsverfassung radikal geändert, die Universität hat völlig Anstalts-Charakter erhalten und von der alten libertas academica finden Sie nur noch wenig.“

Anfang Mai 1934 hat sich an der Universität Freiburg die Lage verändert: Heidegger war als Rektor zurückgetreten. Zum neuen Rektor hatte das Ministerium den Juristen Eduard Kern ernannt. Eucken berichtet seinem Freund Alexander Rüstow, der 1933 geflohen ist und wie sein ebenfalls geflohener Kollege Wilhelm Röpke an der Universität Istanbul lehrt, es habe sich inzwischen „vieles gebessert, seitdem Heidegger und seine Clique aus der Führung der Universität ausgeschieden sind“.

 

Eucken lehnt den Nationalsozialismus von Anfang an ab und bezieht klar Stellung:

So zum Beispiel 1934 bei einer Propaganda-Aktion der „Partei“ in der Aula der Heidelberger Universität – wie es Karl Schiller erzählte, der Wirtschafts- und Finanzminister der 1960er Jahre, der als Student dabei gewesen war: Ein Mann in Uniform aus Berlin habe verkündet, die „Nationalökonomie alter Ordnung“ sei „überholt“, sie sei „jüdisch, schwächlich und nicht zu gebrauchen.“ Alle hätten sich das mit gebeugten Köpfen stillschweigend angehört. Mit einem Mal sei ein Mann aufgestanden, habe die Fäuste geschüttelt und gesagt: „Ich protestiere, ich protestiere. Dafür haben wir bei Langemarck nicht gekämpft.“ Der mutige Mann, so Karl Schiller, „war Walter Eucken. Er stand da wie einst Wilhelm Tell. Dann setzte er sich, und es passierte nichts. Das war erstaunlich. Sonst gab es keinen öffentlichen Protest.“³

Ebenso im Sommersemester 1936, als Eucken eine öffentliche Vorlesung unter dem Titel: „Der Kampf der Wissenschaft – dargestellt am Lebenswerk großer Denker“ hält. Er behandelt Sokrates, Galilei, Spinoza und andere und liefert ein Plädoyer für das Streben der Wissenschaft nach Wahrheit und eine geistige Kampfansage gegen Tyrannei und Machtmissbrauch. Euckens Vorlesung erregt in Freiburg großes Aufsehen und muss – nachdem sie von der Studentenzeitung angegriffen worden ist und mehrere Störmanöver des nationalsozialistischen Studentenbundes vorausgegangen waren – wegen der großen Hörerzahl ins Audimax verlegt werden. Diese Vorlesung wird zum Treffpunkt der Gegner des Hitler-Regimes. Unter den Zuhörern sind auch Hans Spemann (1869–1941), Mediziner und Zoologe der Universität Freiburg, der 1935 den Nobelpreis erhalten hatte, und die Schriftstellerin Ricarda Huch (1864–1947) – Schwiegermutter von Euckens juristischem Kollegen Franz Böhm – , die im April 1933 unter Protest gegen die Gleichschaltung aus der Preußischen Akademie der Künste, der sie als erstes weibliches Mitglied angehörte, ausgetreten war.

 

Eucken und die Anfänge der Freiburger Schule und der Freiburger Kreise

Zu Anfang 1933 trifft Eucken mit zwei neu an die Universität Freiburg gekommenen Juristen – Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth – zusammen. Sie stellen fest, dass sie über das gleiche Thema forschen, nämlich zur Frage „wie lässt sich private und staatliche Macht begrenzen“. Es entwickelt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. Für die Studierenden bieten sie Gemeinschaftsseminare an, in denen sie sich kritisch mit der aktuellen Krisis des Kapitalismus auseinandersetzen und über eine Gesamtordnung nachdenken, in der Wirtschaft funktionieren kann. Es entsteht die Idee, eine Schriftenreihe herauszugeben mit dem programmatischen Titel „Ordnung der Wirtschaft“. Aus diesen Gemeinschaftsseminaren entwickelt sich die Freiburger Schule der Nationalökonomie. Stele 4 dieser Ausstellung geht ausführlich auf die Ideen und Kernthesen der Freiburger Schule ein.

 

Ausgangspunkt der Diskussionen unter den Dozenten und Studierenden im Gemeinschaftsseminar sind nicht weltanschauliche Ideologien, sondern konkrete Sachprobleme. Unter den Beteiligten festigt sich ein Vertrauensverhältnis, so dass die Gemeinschaftsseminare als einer der Orte angesehen werden können, wo sich oppositionell Gesinnte früh erkannten und fanden.

Ein weiterer Ort, an dem sich oppositionell Gesinnte zusammenfanden, wird ab 1934 das Diehl-Seminar, das der emeritierte Ökonom Karl Diehl (1864–1943) „privatissime“ in seinem privaten Arbeitszimmer veranstaltet und an dem nur teilnimmt, wen er dazu aufgefordert hat. Zum Kern der Teilnehmer gehören die Professoren Walter Eucken (Ökonomie), Adolf Lampe (Ökonomie), Gerhard Ritter (Neuere Geschichte), Clemens Bauer (Wirtschaftsgeschichte) und ab 1937 Constantin von Dietze (Ökonomie) sowie ihre Ehefrauen. Wie sich Constantin von Dietze später erinnert, fanden sich hier „vertrauenswürdige Kollegen und Assistenten aus allen Fakultäten zu fachlicher, in wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit und Offenheit getriebener Arbeit zusammen. Der eigentlichen Seminararbeit folgte jedesmal eine ungezwungene Unterhaltung. In ihr wurden ungescheut die politischen Ereignisse besprochen.“

Das Diehl-Seminar wird zur Keimzelle der oppositionellen Freiburger Kreise, die ab 1938 ihre Arbeit aufnehmen: das aus Anlass der Judenverfolgung in der Reichspogromnacht 1938 gebildete „Freiburger Konzil“, der 1942 gegründete „Bonhoeffer-Kreis“ sowie die 1943 eingerichtete „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“.

 

 

¹ Martin Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt 2000, S. 113.

 

² Vgl. Harald Hagemann: Widerstand und Emigration. Die Lage der deutschsprachigen Nationalökonomie nach 1933 und die Rolle der Freiburger Wirtschaftswissenschaftler, in: Nils Goldschmidt (Hg.). Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, S. 3.

 

³ Hauke Janssen: Nationalökonomie und Nationalsozialismus, Marburg 2012, S. 165.

 

⁴ Vgl. Christine Blumenberg-Lampe: Oppositionelle Nachkriegsplanung: Wirtschaftswissenschaftler gegen den Nationalsozialismus. In: Eckard John, Bernd Martin, Marc Mück, Hugo Ott (Hg.). Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Freiburg, Würzburg 1991, S. 209.